Quantcast
Channel: Online-Diskurs Intersexualität
Viewing all articles
Browse latest Browse all 10

Fakten, Mythos, Meinungen zu intersexuellem Leben

$
0
0

Prof. Dr. Martin Westenfelder ist Leiter der Sektion Kinderurologie im HELIOS Klinikum Krefeld. Im August diesen Jahres übernimmt er die Leitung der Abteilung für Kinderurologie der Charité in Berlin. In diesem Artikel bespricht er seine Auffassung von Intersexualität und geht dabei auf medizinische, rechtliche und ethische Ansichten ein.

Fakten
Die Entwicklung unseres Organismus nach der Befruchtung ist außerordentlich komplex. Am kompliziertesten und längsten ist die Entwicklung der Organe, die für unsere Fortpflanzung verantwortlich sind. Die Zeitspanne reicht von der Befruchtung bis zum Erlangen der sexuellen Reife bzw. bis zur Geburt der nächsten Generation.

Da auch in der Natur „alles schief geht, was schief gehen kann“, kommt es in der Embryonalentwicklung ständig und häufig zu Fehlentwicklungen, die, wenn sie schwerwiegend sind, zum Absterben der Frucht führen. Nicht so bei Störungen der sexuellen Differenzierung (DSD), denn sie beeinträchtigen die Lebensfähigkeit der Frucht nur selten, so dass die Kinder damit geboren werden. Dies erklärt ihre relative Häufigkeit. Die meisten DSD-Formen entstehen, wie auch die sonstigen Fehlbildungen, durch eine Hemmung der Entwicklungsvorgänge, so z.B. auch die Wolfsscharte (Lippen- Kiefer- Gaumenspalte), die Rückenmarksspalte (Spina bifida), die Hypospadie, der Hodenhochstand. Eine andere relativ häufige DSD-Form, das AGS, entsteht durch eine Überproduktion von männlich wirkenden Hormonen aus der Nebenniere in Folge eines Enzymdefektes. Bei Mädchen bewirkt dies eine Vermännlichung. Ähnliche Mechanismen sind für die Vermännlichung von Mädchen verantwortlich, deren Mutter einen hormonproduzierenden  Tumor oder deren Mutter aus therapeutischen Gründen in der Schwangerschaft männlich wirkende Hormone bekam. Auch bei diesen DSD-Formen ist die Entwicklung in die chromosomal programmierte Richtung gehemmt worden, zusätzlich, unter dem Einfluss der falschen Hormone, wurde sie dann noch in die männliche Richtung abgelenkt. Diese Besonderheiten weisen darauf hin, wie schwer das Verständnis für das DSD-Phänomen für Laien (fast alle sind es) sein kann, d.h.:
1. durch die Tatsache der langen und komplexen Entwicklung (Organogenese) von der Befruchtung bis zur Fortpflanzung: der Chromosomensatz steuert die Entwicklung der Keimdrüsen, gesteuert von der genetisch determinierten „Zeituhr“, deren Hormone die Ausbildung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, aber auch die entsprechenden Gehirnfunktionen bestimmen. Diese erst steuern mit der sexuellen Reife das Geschlechtsverhalten, welches zur Fortpflanzung führen soll.
2. Die Entwicklung in nicht ein Organsystem, sondern in die beiden, für den Erhalt des Lebens erforderlichen Geschlechtsformen. Sie erfolgt zwangsläufig aus einer gemeinsamen Urform. D.h., es findet nicht nur die longitudinale Entwicklung, sondern auch noch eine Aufspaltung der Entwicklung in männlich oder weiblich statt.
3. Das breite Spektrum trägt ebenfalls zur Verwirrung bei, allerdings nicht für die speziell interessierten Mediziner, die aus den verschiedenen Formen eher Einsichten und Informationen über die Entwicklungsmechanismen erhalten.

Störungen können auf allen Ebenen, isoliert oder kombiniert, eintreten mit der Folge der unvollständigen, defizitären oder unvollständig, aber vermännlichten Geschlechtsorgane, immer gepaart mit den entsprechenden Gehirnfunktionen.

Die meisten Entstehungsmechanismen für DSD und Folgen sind bekannt und können durch die moderne Medizin abgeklärt und behandelt werden. Einfache Beispiele: Hodenhochstand, Hypospadie, Scheidenprobleme, Sinus urogenitalis.

Zur DSD-Nomenklatur
Das DSD Spektrum ist breit und die biologischen Zusammenhänge komplex. Wenn dann in der Diskussion weiter historisch entstandene Begriffe wie „Intersex“, „Zwitter“ „zwischengeschlechtlich“, „Hermaphrodit“,  verwendet werden, die nach heutigem Verständnis nicht mehr zutreffend sind, dann trägt dies zur Verwirrung bei, nicht nur bei Laien, sondern auch bei Medizinern und Psychologen. Diese Begriffe suggerieren die Existenz von etwas meist nicht Existentem (Zwischengeschlechtlichem), und es fällt dann schwer, das Phänomen DSD rationell zu betrachten. Diese historisch entstandenen Begriffe müssen ebenso verstanden werden wie die historischen Begriffe: „Leistenbruch“, „Hexenschuss“, „Schlaganfall“. Von Sachkundigen verwendet ist dabei immer klar, um was es sich handelt. Aber selbstverständlich ist beim Leistenbruch nichts gebrochen, die Hexe hat nicht geschossen, und beim Schlaganfall hat niemand einen Schlag bekommen.

Bei Verwenden der korrekten Nomenklatur verschwindet der Eindruck, dass Intersex, Zwitter, Hermaphroditen faszinierende Spielformen  der Natur zwischen männlich und weiblich sind, sondern es handelt sich um Störungen in der Entwicklung des männlichen oder weiblichen „Bauplans“. Diese sexuellen Differenzierungsstörungen, bzw. Fehlentwicklungen können die Fortpflanzung und den Erhalt unserer Spezies beeinträchtigen, wenn ihr prozentualer Anteil immer weiter steigen sollte (Weichmacher des Plastiks).
Welche Bedeutung DSD in der Evolution zukommt, ist unklar.

Medizinische Beeinträchtigung, Krankheit
Für viele DSD-Betroffene bedeutet die Anomalie nicht nur eine psychologische, emotionale Bürde, sondern auch eine direkte medizinische Beeinträchtigung (Krankheit). Dies wird in den Diskussionen meist nicht berücksichtigt.

Ein paar Beispiele für rein medizinische Beeinträchtigung ohne Berücksichtigung der Beeinträchtigung der Sexualfunktionen:
Hodenhochstand: in 85 Prozent vergesellschaftet mit Leistenbruch, erhöhte Traumagefahr, erhöhtes Risiko der Entartung.
Hypospadie: häufig assoziiert mit einer Enge der Harnröhrenmündung, dann Gefahr der aufsteigenden Entzündung des Harntraktes, der Nebenhoden und der Prostata. Gefahr von Lichen sclerosus et atrophicans, einer gefährlichen Hauterkrankung.
Epispadie: proximale Formen sind inkontinent.
Blasenekstrophie mit Epispadie: Blase, Bauchdecken und Becken sind gespalten.
Mädchen mit Anomalien des Sinus urogenitalis haben häufig Harnwegsinfektionen, Inkontinenz, einen Hydrometrokolpos oder Hämatokolpos, ebenfalls mit aszendierenden Infektionen
Menschen mit gemischter Gonadendysgenesie haben ein hohes Risiko von Harnwegsinfektionen und ein sehr hohes Entartungsrisiko der dysplastischen Strukturen (ca. 23%)
XY- Frauen haben signifikant häufiger Leistenhernien (Hernia uteri inguinalis)
Mädchen und Jungen mit Kloakalanomalien haben lebensbedrohende Probleme mit Infektionen, sind inkontinent.

Zur Ethik
Behindernde Anomalien, die medizinisch behandelt werden können, müssen auf Grund unserer medizinischen – und staats-ethischen Normen behandelt werden, um den Betroffenen den Anomalieschaden zu nehmen oder soweit wie möglich zu minimieren, sie damit vor weiteren Folgen zu schützen und ihnen eine normale Entwicklung und damit ein normales oder weitgehend normales Leben zu ermöglichen.

Zur Kritik medizinischer Maßnahmen
Bei aller, z.T. auch berechtigter Kritik an der historischen Behandlung von DSD unterscheiden sich die gemachten und zu kritisierenden Fehler in nichts von historischen Fehlern auf sonstigen Gebieten der Medizin. Diese müssen ebenso bewertet werden wie Fehler auf anderen Gebieten, wo z.B. aus damaligen Fehlverständnissen Fehler mit der Umwelt oder im politischen oder kirchlichen Bereich gemacht wurden.

Vorwürfe zu Operationen
Die von Betroffenengruppen erhobenen Vorwürfe über unsinnige bis kriminelle Operationen, die ganz häufig auch von Medizinern und Psychologen „abgenickt“ werden, sind seit Jahrzehnten Vergangenheit. Dass Operationen misslingen, bleibt bittere Realität.

Dies gilt für alle Aktivitäten auf allen Gebieten. Diese Operationen strafrechtlich zu ahnden, erwies sich in den USA nach anfänglicher Verunsicherung als unrealisierbar. Es grenzt dann umgekehrt schon eher an den Tatbestand der Körperverletzung, wenn durch unüberlegte Aktionen in der Öffentlichkeit Eltern so verunsichert werden, dass sie (die Eltern) erforderliche Eingriffe zum Schaden des Kindes verhindern.

Dass es sich bei den Operationen um verstümmelnde Eingriffe handeln würde, ist bei heutigen mikrochirurgischen Techniken schlichtweg falsch. Es gibt kein „Herumgeschnippele“, welches beendet werden muss. Wir sind heute in der Lage, die meisten Fehlbildungen kosmetisch und funktionell gut zu korrigieren.

Dass funktionierende Keimdrüsen (Kastrationen) entfernt würden, ist in der Regel ausgeschlossen, sie werden in der Regel erhalten. Es gibt extrem seltene Ausnahmen, z.B. wenn nach der Pubertät ein Hodenhochstand verbleibt, weil sich der Hoden (dann schon geschädigt) operationstechnisch nicht aus dem Bauchraum in den Hodensack verlagern ließ. Liegt auf der Gegenseite ein gesunder Hoden vor, dann wird der betroffene Hoden entfernt, möglicherweise durch eine Prothese ersetzt, um einmal die bösartige Entartung zu verhindern und zum anderen den nicht betroffenen Hoden nicht zu schädigen. Dies ist keine Kastration da ja der gute Hoden verbleibt und geschützt wird, sondern eine medizinisch sehr sinnvolle Maßnahme. Dass, wie behauptet, solche Fälle der Kastrationen bei Selbsthilfegruppen mehrfach auf dem Schreibtisch lägen, ist entweder Unverständnis der medizinischen Zusammenhänge oder frei erfunden.

Gegengeschlechtliche Organstrukturen oder fehlentwickelte Keimdrüsenanlagen ohne Keimzellen müssen, auf Grund der hohen Entartungsrate, entfernt werden.

Dass alle Operationen (Blinddarm, abstehende Ohren, Tonsillektomie) ausnahmslos traumatisch sind, ist eine Binsenwahrheit. Für Genitalanomalien ist immerhin bekannt, wann und unter welchen Vorraussetzungen sie am besten toleriert werden.
Dass bei Einhalten entsprechender Standards zu viel operiert wird, trifft nicht zu.

Zum Sinn der Kinderschutzkonvention
Die Kinderschutzkonvention der Vereinten Nationen, die die Unversehrtheit von Kinder garantieren soll, bezieht sich selbstverständlich auf den gesunden Organismus (soll die weibliche Beschneidung verhindern, kann aber auch die rituelle Beschneidung von Knaben nicht verhindern) und nicht auf die Korrektur von Hodenhochständen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder der Spina bifida.

Zum Verbot der Eltern, über das Wohl ihrer Kinder entscheiden zu lassen
Dass Eltern über das unmittelbare Wohl ihrer Kinder, auch das gesundheitliche, entscheiden, hat sich in den meisten Kulturkreisen über Jahrtausende etabliert. Ohne die Einwilligung der Eltern ist nur in zwingenden Notfällen eine Operation möglich. Eltern per Grundgesetzänderung das Recht absprechen zu wollen, über das Wohl und die Behandlung ihrer fehlgebildeten Kinder zu entscheiden, ist nach Meinung sachkundiger Juristen, in einschlägigen Veröffentlichungen, unrealistisch. Danach bleibt unstrittig, dass Eltern über ihre Kinder entscheiden, nicht der Staat, so lange den Eltern das Sorgerecht nicht genommen ist. Sie entscheiden über die Religionszugehörigkeit, Erziehung, Kleidung, Ernährung, Schule, Freizeit und selbstverständlich auch über medizinische Belange. Dass Eltern dabei Fehler machen, ist normal und allen Menschen bekannt, dass der Staat schlechter entscheidet, ist historisch bewiesen.

Zur medizinischen Notwendigkeit von Operationen
Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich um Operationen, die die Funktionen normalisieren, dabei wird ebenso auf den Nervenerhalt als auch auf die Kosmetik geachtet. Kosmetische Störungen haben, wie wir heute wissen, eine viel größere Bedeutung für die Emotionalentwicklung als allgemein bekannt.

Zu den Ergebnissen der medizinischen Behandlung bei DSD
Es geht in der Diskussion immer wieder um den angeblich fehlenden Nachweis, dass die Behandlung von DSD sinnvoll ist. Studien werden gefordert. Für den Nachweis, dass das medizinische Handeln gerechtfertig ist, gibt es verschiedene Methoden und Evidenzgrade. Ein großer Teil des Wissens hat sich historisch entwickelt und braucht nicht mehr durch vergleichende Studien bewiesen werden, z.B. Sinn der Behandlung von Knochenbrüchen, des vereiterten Blinddarms, von Infektionen, von Tumoren. Es wird auch zum medizinischen Sinn der Behandlung von DSD keine gerechtfertigten vergleichenden Studien mehr geben, denen eine Ethikkommission zustimmen würde.

Es gibt aber viele Publikationen über Vergleiche von verschiedenen Methoden und deren Erfolgsergebnisse. Und es gibt Vergleiche zwischen der Frühbehandlung, wie sie heute empfohlen wird, und der Spätbehandlung. Dabei zeigt sich eindeutig, dass bei Operationen ab der Pubertät die  Komplikationsquote  vier bis fünf Mal höher ausfällt als im ersten Lebensjahr, z.B. bei Hypospadie-Operationen. Bei Spätkorrekturen ist auch schon ein großer Teil des Anomalieschadens eingetreten, das Körperbild fixiert, so dass sich nach heutigem medizinischen Wissenstand Spätoperationen verbieten.

Zum Sinn des 3. Geschlechtes
Per Grundgesetzänderung ein drittes Geschlecht, das der Hermaphroditen für DSD- Betroffene, einzuführen, würde einen Akt der Diskriminierung für den größten Teil der Betroffenen bedeuten, denn realistisch handelt es sich bei denjenigen, die sich dafür einsetzen, um einen verschwindend kleinen Prozentsatz, während der Großteil der Betroffenen möglichst nicht auffallen und normal sein möchten. Nur weil die Zusammenhänge vor 200 Jahren nicht bekannt waren kam es im preußischen Landgesetz zu einer pragmatischen „vorläufigen“ Lösung.

Mythos
Der faszinierende Hermaphrodit, aus der Verbindung von Hermes und Aphrodite entstanden, die ihm ihre besten körperlichen Eigenschaften mitgaben, hat nichts mit der DSD-Realität zu tun. Echte Hermaphroditen (Zwitter) sind extrem selten und wünschen sich, wie die allermeisten der Betroffenen „normal“ zu sein. Dies gilt genauso für Transsexuelle, die im anderen Geschlecht ganz normal sein wollen. Hermaphroditismus hat nichts zu tun mit Bi-, Homo- und Transsexualität und die allermeisten „Intersexformen“ oder DSD-Formen dürfen nicht in einen Topf geworfen und mystifiziert werden. DSD ist keine Laune, keine Spielform oder Variante der Natur, die außer männlich und weiblich noch „andere“ Formen „zulässt, schafft, ermöglicht“. DSD ist Folge einer gestörten Entwicklung, eine Hemmungsfehlbildung.

Aber Sex fasziniert und interessiert jeden, insbesondere die Vorstellung von Intersexualität und Transsexualität, kein Wunder, dass sich Medien und viele nichtmedizinische Gruppen damit beschäftigen und profilieren.

Meinungen
Jeder hat normalerweise eine oder seine Meinung zu allem. Nichtrecherchierte und nicht fundierte Meinungen von „Experten“, die aus ihrer Sichtweise das Phänomen DSD als intersexuell interpretieren, sind bei der Beurteilung nicht hilfreich. Dies gilt für Medien und Publikationen ebenso wie für fach- und sachunkundige Mediziner, Psychologen, Ethiker Juristen und Politiker. Bei Betroffenen ist es wichtig, ihre Meinung und Erfahrung zu hören, zu verstehen und in den Denkprozess zu integrieren. Aber auch Betroffene können nur von sich berichten und nicht über DSD urteilen, außer sie haben sich wissenschaftlich, z.B. als Arzt, ausgebildet und mit dem Thema beschäftigt. Das DSD- Phänomen ist zu komplex und zu sensibel, um generelle Meinungen dazu zuzulassen oder nach Meinung von Gruppen Entscheidungen zu fällen.

Interessant in diesem Zusammenhang sind die Meinungen der Referenten in den Online- Darstellungen des laufenden Verfahrens.

 

Prof. Dr. Martin Westenfelder ist Leiter der Sektion Kinderurologie im HELIOS Klinikum Krefeld. Mehr erfahren Sie hier.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 10